Bedürfnisorientierte Erziehung Großeltern erklärt

Großmutter mit zwei kleinen Mädchen am Sofa beim Vorlesen

Wir über 50-Jährige sind selbst aufgewachsen mit Sprüchen wie „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, …“ oder „Der Teller wird leer gegessen.“ oder „Schreien stärkt die Lunge.“ Vielleicht haben wir unsere Kinder schon anders erzogen, gaben mehr Freiraum, Entscheidungsmöglichkeiten, legten Wert auf Selbständigkeit. Doch gab das den Kindern Halt und Orientierung?

Auch die Elterngeneration von heute will vieles anders machen und hält Bindung und Bedürfnisorientierung für wichtig. Doch was bedeutet das genau? Es geht um so viel mehr als Tragetücher, Stillen nach Bedarf oder sofortige Wunscherfüllung. Es geht um Respekt und Feinfühligkeit, das miteinander Wachsen und starke Beziehungen.

Als Großeltern einen Platz finden im neuen Familiengefüge und die junge Familie im Prozess begleiten – dafür habe ich einen Vortrag erarbeitet. Auszüge daraus stelle ich hier im Blog vor. Vielleicht magst du als Leserin oder Leser jemanden den Vortrag ans Herz legen oder für dich selbst erste Impulse zur Reflexion entdecken.

Perspektivenwechsel

„Es reicht jetzt. Die Tränen kommen. So viel war heute schon. So oft habe ich schon mit mir gekämpft und stillgehalten. Der Tag im Kindergarten. Die neue Erzieherin, die mich scheinbar gar nicht sieht. Der Streit mit meiner Freundin Lina. Ole, der mir einfach den Turm umgeworfen hat. Alle anderen Kinder haben Turnsachen dabeigehabt, nur ich nicht.

Dann habe ich mich auf den Nachmittag bei Oma und Opa gefreut und dann hat es sowas Komisches zu essen gegeben. Ich habe trotzdem gegessen, weil ich weiß, dass Oma sich Mühe gegeben hat. Und dann sagt Opa auch noch „Na komm, stell dich nicht so an!“ als ich mir das Knie ganz doll angestoßen habe. Das ist zu viel. Ich merke wie sich alles löst und ich richtig laut schluchze. So weh tat es wirklich nicht, aber da ist noch mehr. Bitte, Opa, nimm mich einfach in den Arm.“, soweit Kim, 4 Jahre alt.

Hast du den Alltag eines Kindes schon mal aus der Perspektive seiner Gedankenwelt betrachtet? Oft hilft es, sich bewusst zu machen, dass ein Tag in der Kita nicht immer nur vergnüglich ist. „Das Spiel ist die Arbeit des Kindes.“, sagte Friedrich Fröbel, der große Pädagoge. Das heißt: Es kann anstrengend sein, ermüdend, beinhaltet Konflikte, mal Erfolge und mal Misserfolge.

Was ist bedürfnisorientierte Erziehung?

Bedürfnisorientierte Erziehung versucht, die Bedürfnisse und Gefühle des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen. Anstatt Regeln und Autorität anzuwenden, geht es darum, eine tiefere zwischenmenschliche Verbindung herzustellen.

Es geht darum, Signale und Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, zu respektieren und auf sie einzugehen. Das heißt nicht, alle Wünsche zu erfüllen oder keine Grenzen zu haben. Stattdessen wollen wir in einer einfühlsamen und respektvollen Art und Weise miteinander sprechen und umgehen.

Wie das geht? Ausführliche Antworten findest du im Buch von Daniel J. Siegel & Tina Payne Bryson „Achtsame Kommunikation mit Kindern“ über das ich vor kurzem eine Rezension geschrieben habe.

Die Grundpfeiler bedürfnisorientierter Erziehung

Grundpfeiler Nr. 1: Gefühle

Kim aus meinem Beispiel kann noch nicht formulieren: „Also Opa, ich war heute schon wütend, traurig, hab mich geschämt und was eklig gefunden, also bitte versteh, wenn ich jetzt schluchze und einfach in den Arm genommen werden will.“

Gefühle drücken sich im Körper aus und zeigen sich im Verhalten. Eine mögliche Reaktion von Kim könnte sein: „Blöder Opa, ich will jetzt meine Mama!“ Was zu diesem Satz alles geführt hat, bleibt wie bei einem Eisberg unter der Oberfläche verborgen.

Die bedürfnisorientierte Erziehung vermittelt: Alle Gefühle sind in Ordnung. Wir Erwachsenen haben viel zu lange gelernt, unangenehme Gefühle vor anderen zu verbergen, sie abzuwerten oder Stärke zu zeigen. Was kam dabei heraus? Menschen, die ihre Sorgen in sich hineinfressen und (manchmal) darüber krank werden. Es gibt keine guten und schlechten Gefühle. Unangenehme Gefühle zeigen uns nicht erfüllte Bedürfnisse.

Grundpfeiler Nr. 2: Bedürfnisse

Wir kennen verschiedene Bedürfnisse:

  • vitale: Schlaf, Luft, Essen, Trinken, Schutz vor Witterung, Sicherheit
  • kognitive: Lernen, Abwechslung
  • emotionale: Bindung & Autonomie, Orientierung & Kontrolle, Lustgewinn & Unlustvermeidung, Selbstwert
  • soziale: Teilhabe, Zugehörigkeit

Lies dir nochmal Kims Gedankenwelt durch. Welche Bedürfnisse kommen vermutlich in diesem Beispiel vor? Beachte: Jedes Kind, jeder Mensch ist individuell und hat eigene Bedürfnisse. Werden seine Bedürfnisse nicht erfüllt, stößt das Kind bzw. der Mensch an Grenzen. Das ist normal.

In meinem Artikel 3 Tipps für bessere Kooperation bei Kindern geht es auch um befriedigte Grundbedürfnisse.

Grundpfeiler Nr. 3: Grenzen

Früher wurden Grenzen in der Erziehung ohne Begründung von Erwachsenen gesetzt: „Es ist so, weil ich es sage.“ – „Wenn du nicht tust, was ich sage, dann, …“ Vieles erschien willkürlich. Manchmal ist das noch immer so.

Bindungstheorie, Neurowissenschaft, Emotionsforschung, Achtsamkeitsforschung vermitteln uns eine bedürfnis- und beziehungsorientierte Sicht: Kinder halten sich nicht an Regeln/Grenzen/Erwartungen, weil sie eigene Entwicklungsaufgaben haben und keine Übereinstimmung da ist mit den Zielen der Erwachsenen.

Grenzen und Grenzverstöße kennt unsere Gesellschaft in unterschiedlichster Form: Grundstücksgrenzen, Geschwindigkeitsbegrenzung, Schamgrenze, Grenze der Belastbarkeit. Wie ist das bei dir? Hältst du die Grenzen immer ein? Ich denke da an das Finanzamt, den Straßenverkehr, das Handy beim Essen …

Es ist doch ganz normal, Grenzen zu prüfen, außer Acht zu lassen, zu vergessen und immer wieder auch zu überschreiten, wenn ein Bedürfnis uns wichtiger erscheint. Wie oft bist du schon unabsichtlich zu schnell durch eine 30er-Zone gefahren, weil du gerade mit den Gedanken woanders warst? Steht das den Kindern nicht auch zu, Fehler zu machen? Dazu kommt bei Kindern: Sie können unsere Erwartungen nicht immer ahnen. Das ist alters- und erfahrungsabhängig.

Großeltern mit zwei Kindern im Wald - bedürfnisorientierte Erziehung verstehen

Konflikte entstehen, wenn unterschiedliche Ziele aufeinander stoßen

Menschen haben ständig unterschiedliche Ziele. Das ist normal und kein Grund, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Sie sind Gelegenheit, etwas zu lernen. Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, Kinder dabei zu begleiten.

Die Lernaufgabe für Kinder ist es, zu erfahren, dass andere Menschen auch Grenzen und eigene Ziele haben. Diese sind individuell, abhängig von Temperament und Erfahrungen und außerdem von der Tagesform oder aktuellen Ereignissen.

Kinder dürfen Eltern und Großeltern daher nicht als „Bedürfnis-Erfüllungsautomat“ erleben. Es geht nicht darum, Bedürfnisse immer oder immer sofort zu erfüllen. Es geht vielmehr darum, sich im sozialen Gefüge zu erleben und dem Kind auch die Bedürfnisse der anderen Menschen zu vermitteln.

Ein wesentlicher Baustein, dass das gelingen kann, ist es, den eigenen Bedürfnistank gut zu füllen. Ein weiterer Baustein ist das Wissen über Gehirn- und Entwicklungsreife von Kindern. Darüber habe ich zuletzt geschrieben: 5 Dinge, die Eltern übers Nervensystem wissen sollten.

Kinder wollen nicht tyrannisieren. Kinder brauchen liebevolle Führung, einfühlsame und verantwortungsvolle Erwachsene mit eigenen Grenzen, die diese klar, deutlich und liebevoll kommunizieren.

Vorteile bedürfnisorientierter Erziehung

  • Fördert das Vertrauen
  • Gibt Sicherheit
  • Öffnet Gesprächsbereitschaft über Gefühle und Gedanken
  • Kinder lernen Konflikte im Gespräch zu lösen anstatt mit Gewalt (Bestrafung, Ausschluss, Abwertung, Vermeidung, Ironie …)
  • So entwickeln Kinder selbst Empathie, Selbstbewusstsein, Verantwortungsgefühl
  • Gut für die psychische Gesundheit

Nachteile bedürfnisorientierter Erziehung findest du übrigens dann, wenn sie falsch verstanden wird. Dazu findest du hier einen aktuellen Artikel.

Wie kann deine Rolle als Großeltern aussehen?

Als Großeltern hast du möglicherweise ein wenig mehr Zeit, Geduld und weniger Stress als die Eltern. Vielleicht macht dir das leichter, Bedürfnisse der Kinder und der Eltern von außen wahrzunehmen.

Ist es dir möglich, diese Bedürfnisse beider Seiten zu benennen und aufzugreifen? Hast du Kapazitäten, Bedürfnisse zu erfüllen und dadurch Kinder oder Eltern zu stärken?

Es geht nicht um Wunscherfüllung. Das ist etwas anderes. Du brauchst weder das dritte Eis des Tages, noch das ersehnte Objekt aus dem Spielwarenladen kaufen. Frage dich, welches Bedürfnis dahinter stecken könnte. Geht es um ein Statussymbol und den Wunsch nach Anerkennung? Wie kannst du das Selbstwertgefühl des Kindes anderweitig stärken?

Manchmal fragst du dich womöglich, warum die Eltern so oder so entscheiden, z.B. augenscheinlich dauernd „nachgeben“. Vielleicht gibt es einen guten Grund dafür. Geh in den Dialog und höre einfach zu. Verzichte auf Ratschläge. Die Eltern werden dich fragen, wenn sie es für hilfreich halten.

Frage lieber, ob sie Unterstützung brauchen. Tausche dich mit den Eltern über eure Erwartungen aus.

Verständnis füreinander entwickelt sich im Gespräch: Magst du darüber sprechen, wie du erzogen wurdest und wie du deine Kinder erzogen hast. Vielleicht gibt es etwas, das du heute anders machen würdest.

Da du hier auf meinem Blog liest, befasst du dich wahrscheinlich mit klarer und wertschätzender Sprache. Du kannst mit deiner Sprache auch den Eltern ein Beispiel geben. Sprache steckt an. In meinem PDF Wertschätzen statt loben leicht gemacht findest du dazu zahlreiche Tipps.

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