Es ist zum Schreien in der Kita

schreiende Kinder

Ja, es ist zum Schreien in der Kita. Und manchmal ist es auch zum Heulen. Ob Corona oder nicht, die Personaldecke ist meistens zu knapp. Fachkräfte sind oft überlastet und versuchen dann – je nach Konstitution – den Laden irgendwie zusammenzuhalten oder werden krank. Und manche schreien einfach. Sie schreien die Kinder an.

Darüber rege ich mich immer wieder auf, denn die Kinder sind die Schwächsten in der Kita. Und gleichzeitig weiß ich, dass die Ursachen für das Schreien der Erzieher:innen vielschichtig sind. Der Versuch einer Analyse:

Was ich sehe an Rahmenbedingungen in der Kita

Die Gruppen sind voll, 25 Kinder auf engem Raum. Rechnerisch kommen in Bayern 8,3 Kinder auf eine Fachkraft. In dem Augenblick, wo ich mir diese Zahl aus dem Netz recherchiere, steht darunter, dass die Bertelsmann Studie zum Stichtag 01.03.19 für 67 % der bayerischen Kitas zu wenig Personal festgestellt hat. Es ist nicht anzunehmen, dass sich seither etwas geändert hätte. Im Gegenteil, der „Markt“ für Erzieher:innen ist leergefegt, der Ausbau von Krippenplätzen und die zunehmende Akzeptanz in der Bevölkerung trugen dazu bei.

Aber was heißt schon rechnerisch. Was soll die Leitung tun, wenn eine Fachkraft sich morgens krank meldet? Urlaub lässt sich zwar planen, Krankheit jedoch nicht. Kommen also zur geplanten Abwesenheit durch Urlaub oder Fortbildung noch ein oder zwei kranke Kolleg:innen, wird es schnell eng. Eine mobile Reserve gibt es nicht.

Wie Reizüberflutung selbst gemacht wird

Spielzeug durcheinander (Frösche aus Holz, Lego)
Wie gut kannst du die Frösche auf so einem unruhigen Hintergrund finden?

Was ich auch sehe, sind oftmals völlig überladene Gruppenräume. Ob es die eigenen Ansprüche der Fachkräfte sind oder die Erwartungshaltung von Eltern: Da werden Fenster bunt bemalt und von der Decke Mobiles und zur Jahreszeit passende Dekorationen gehängt. Welche Haltung steht dahinter? Ist es: „Seht mal, wir haben etwas Sichtbares produziert!“ Pädagogisches Handeln kann man eben nicht so einfach sichtbar machen.

An den Wänden hängen bunte Plakate zum aktuellen Thema oder Abschiedsgeschenke von früheren Vorschulkindern. Auf dem Boden liegen quietschbunte Spielteppiche. Offene Regale überfordern selbst mich mit ihrem vielfältigen Angebot und machen mich orientierungslos. Die Krönung sind für mich immer bunt gemusterte Folientischdecken auf dem Maltisch.

Was passiert? Viele Kinder sind überfordert. Sie wissen gar nicht, welchem Reiz sie zuerst folgen sollen. Manche merken auch nicht, wenn etwas Neues da ist – es ist einfach immer viel. Bevor sie sich für eine Sache oder ein Spiel entschließen, rennen sie lieber erstmal eine Weile herum. Das Material von der Decke bewegt sich auch noch und schafft zusätzliche Irritationen.

Und du kannst davon ausgehen, dass in nahezu jeder Gruppe ein oder mehrere Kinder mit Autismus-Spektrums-Störungen, ADHS oder Wahrnehmungsstörungen sind. Gerade sie sind mit diesen unzähligen Reizen völlig überfordert. Der Blick hinaus ins Grüne, in eine hoffentlich sichtbare Natur ist durch Fensterbilder versperrt. Dabei wissen wir inzwischen, dass schon der Blick auf Natur die Psyche stabilisieren kann und zur Gesundheit beiträgt.

Blumenwiese
Der Blick auf Natur entspannt und beruhigt.

Was ich höre an Lautstärke

Schon oft hörte ich Eltern sagen: „Ich würde den Lärm den ganzen Tag nicht aushalten.“ Ich gestehe: Ich auch nicht. Als Heilpädagogin bin ich nur stundenweise in einer Gruppe und nehme meist ein paar Kinder mit in einen ruhigen Nebenraum oder Bewegungsraum, weil da Lernen besser gelingt. Es ist keine Überraschung für mich: Meist habe ich mehr als genug Kinder, die gerne mitkommen wollen. Auch sie genießen das ruhigere Spielen.

Ja, 25 mehr oder weniger lebhafte Kinder, da gibt es viel zu reden beim Spielen und Lernen. Allein das schafft schon einen Grundpegel. Und natürlich wollen Kinder auch mal laut sein. Dazu kommt klapperndes Spielzeug aus Kunststoff.

Lärm ist der stärkste Belastungsfaktor für die Gesundheit der Kinder und Erzieherinnen in einer Kita. Untersuchungen haben ergeben, dass es in einer Kita bis zu 117 Dezibel (dB) laut wird. Zum Vergleich: Ein in 100 m Entfernung startender Düsenjet ist „nur“ 100 dB laut.

pro-kita.com

Warum pädagogische Fachkräfte in der Kita schreien

Manche wollen vielleicht einfach nur lauter sein, als die Kinder, um eine Ansage zu machen. Bestimmt schaukelt sich das bei einigen auch im Laufe des Tages mit dem Lärmpegel hoch. Sicher ist es auch ab und zu nötig, ein lautes „Stopp!“ zu rufen, um eine gefährliche Situation zu unterbrechen.

Oft höre ich jedoch auch die Überforderung der Fachkraft aus ihrem Schrei heraus. Es ist ein „Ich kann nicht mehr!“, weil eigene Bedürfnisse zu kurz kommen:

  • das Bedürfnis nach Ruhe – na ja, geringerem Lärmpegel
  • das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit – der pädagogischen Aufgabe gerecht werden zu können, wenn ständig zu wenig Personal da ist
  • das Bedürfnis, als Mensch gesehen zu werden, mit Schwächen und Grenzen
  • das Bedürfnis, geschätzt, geachtet und respektiert zu werden
  • das Bedürfnis nach genug zu trinken, frischer Luft oder einmal in Ruhe zur Toilette gehen zu können
  • das Bedürfnis nach Vertrauen von Seiten der Eltern oder Leitung
  • das Bedürfnis nach Beteiligung an Konzeption und Bedingungen.

Der Hilfeschrei braucht übrigens nicht immer laut zu sein. Noch häufiger höre ich gereizten und genervten Tonfall, bevormunden, Respektlosigkeit, missbilligen, abwerten, schimpfen und lästern.

Ich verstehe diese Ausdrucks-Formen auch als Überforderung. Die Fachkräfte, die so mit Kindern, Eltern oder Kolleg:innen umgehen, können im Moment nicht anders. Vielleicht haben sie auch über die Wirkung von Lästern und beschämen noch nicht nachgedacht. Doch eins ist sicher:

Bild: Frau schreit
Text: Wer schreit, verliert!
Wer schreit, verliert!

Wer schreit, verliert die Achtung der Kinder, die der Kolleg:innen, die von Eltern und letztlich von sich selbst. Denn jede pädagogische Fachkraft weiß, dass Schreien im Grunde eine Kapitulation ist. Es ist eine Kapitulation vor der momentanen Situation.

Und es führt zu weiterem Schreien. Als Erzieher:in bist du immer Vorbild. Wie sollen die Kinder lernen, „normal“-leise zu sprechen oder Konflikte im Dialog zu klären, wenn du selbst ihnen das anders vorlebst?

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Was können Fachkräfte in der Kita tun?

  1. Schrei für bessere Rahmenbedingungen. Ich weiß, das kostet auch wieder Energie. Und gleichwohl ist es so wichtig.
  2. Reduziere die Reizüberflutung. Geh mit offenen Augen durch die Kita, den Flur, die Gruppe, die Nebenräume. Weniger ist mehr! Lass die Dekoration eine Weile leer und beobachte, wie die Kinder und du reagieren.
  3. Prüfe, was akustisch noch zu verbessern ist. Hier geht es um Arbeitsschutz für die Mitarbeiter:innen. Hole dazu den Kita-Träger ins Boot, das ist seine Pflicht. Im oben genannten Artikel von pro-kita findest du noch eine ganze Menge Tipps dazu.
  4. Achte auf deine Bedürfnisse. Das heißt natürlich nicht, zu sagen „Ich brauch jetzt mal ne Pause.“ und sich zu verdrücken. Das kann aber heißen, mit den Kindern darüber zu reden, warum dein Stresspegel am Limit ist und sie um Unterstützung bitten. Mehr dazu findest du in dem großartigen Buch von Lea Wedewardt und Kathrin Hohmann „Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten“.
  5. Fange bei dir selbst an: Lerne klar und wertschätzend zu kommunizieren. Hier findest du eine Anleitung: Wie du zu einem guten Sprachvorbild wirst.
Bild: Kind malt mit Pinsel seine Hand an
Text: Es ist zum Schreien in der Kita
Veröffentlicht am
Kategorisiert in Kita

5 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen Artikel und die Lösungsideen. Selbst wenn ich selber keine schreienden Erzieher*innen kenne, so weiß ich vom schlechten Betreuungsschlüssel, der sich in der Realität leider nicht so schnell ändern wird.
    Auch in diesem Bereich zeigt sich mal wieder „Qualität vor Quantität“ oder auch „weniger ist mehr“ (in Bezug auf die angebotenen Dinge).

    1. Ja, letztlich heißt es für alle Beteiligten: Was kann ich dafür tun, dass eine Situation besser wird? Was ist mein Anteil am Geschehen? Dabei geht es nicht um Schuld. Reflexion sollte im professionellen Bereich einfach selbstverständlich sein.

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