Buchtipp: „Das Trauma in dir“ von Bessel van der Kolk

Dieses Buch habe ich gelesen, weil ich mich mit den Themen „Nervensystem regulieren“ und „Trauma bei Kindern“ seit einiger Zeit in der Theorie befasse und sie mich in meiner praktischen Arbeit permanent begleiten.

Das Fachbuch „Das Trauma in dir“ von Bessel van der Kolk hat den Untertitel: Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können. Peter Levine, der große amerikanische Psychotraumatologe schreibt dazu: „Das Buch ist von atemberaubendem, geradezu epischen Ausmaß, geschrieben von einem der wichtigsten Pioniere der Erforschung und Behandlung von Traumata.“

Worum geht es im Buch?

Tatsächlich findet sich auf den über 550 Textseiten des Buches eine umfassende Darstellung über den neurowissenschaftlichen Hintergrund von Traumata, ihre Spuren in Verhalten und Körper sowie verschiedene Therapieformen. Dazu kommt noch ein reichhaltiger Anhang.

Bessel van der Kolk, ein in den Niederlanden geborener und in den USA arbeitender Psychiater und Gründer des Trauma-Centers in Boston, prägte jahrzehntelang die klinische Forschung zum Thema. Das genannte Buch erschien erstmals 2014.

Das Buch ist kein Selbsthilfe-Ratgeber, sondern ein wissenschaftlicher Überblick und entsprechend anspruchsvoll zu lesen. Dennoch ist es verständlich und aufgrund der zahlreichen Beispiele aus van der Kolks klinischer und therapeutischer Praxis sehr anschaulich.

Viele seiner Erfahrungen mit Kriegs-Veteranen fließen mit ein. Jedoch liegen ihm besonders Kinder am Herzen. Ein großer Teil des Buches dreht sich um Entwicklungstraumata und welch gravierende Auswirkungen diese auf die Gesellschaft haben.

Neben bekannteren Therapieformen, wie EMDR oder Neurofeedback stellt er auch Methoden und Techniken vor, die auf den ersten Blick nicht an Trauma-Therapie denken lassen, wie Yoga und Theaterarbeit.

Was mich an diesem Buch fasziniert hat

Da ist zum einen die fantastische Erläuterung dessen, was im Gehirn vorgeht, wenn es in Stress gerät. Er beschreibt den Thalamus (einen Bereich im limbischen Gehirn) als eine Art „Koch“, der die Suppe unseres Erlebens zusammenmischt. Dann gibt es da die Amygdala (ebenfalls in den Tiefen des limbischen Gehirns verortet), die als eine Art „Rauchmelder“ fungiert. Die Amygdala prüft, ob ein eintreffender Input überlebenswichtig ist und sendet (manchmal auch vorschnell) Stresshormone aus. Liegen bereits Traumata vor, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fehleinschätzung höher.

So erklärt sich, dass manche Kinder (und Erwachsene) scheinbar völlig überzogen auf für andere Menschen harmlose Ereignisse reagieren. Denn bei ihnen ist gerade der „Wachturm“ (Präfrontaler Kortex, ein Gehirnbereich, der für die Planung und Steuerung von beabsichtigten Reaktionen zuständig ist) außer Betrieb. Die Impulskontrolle funktioniert nicht.

Effektiver Umgang mit Stress ist nur im Falle einer Balance zwischen dem „Rauchmelder“ und dem „Wachturm“ möglich.
Bessel van der Kolk, S. 101

Zum anderen beschreibt van der Kolk Traumata als die verborgene Epidemie. Er berichtet von einer groß angelegten Studie, der Adverse Childhood Experience (amerikanische Untersuchung über schädliche Kindheitserlebnisse aus dem Jahr 1998).

Die ACE-Studie ergab, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit und Jugend wesentlich häufiger vorkommen, als man bis zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte.
Bessel van der Kolk, S. 227

Nur ein Drittel der 25000 Teilnehmenden berichtete nicht über schädliche Kindheitserlebnisse. Dabei waren die Personen durchweg aus der sogenannten Mittelklasse. Eine deutsche Studie ergab 2019 niedrigere (knapp 56 % ohne schädliche Kindheitserlebnisse), jedoch immer noch schockierende Ergebnisse. Die Studien verdeutlichen die Zusammenhänge zwischen der Anzahl schädlicher Kindheitserlebnisse und dem Vorkommen verschiedener Schwierigkeiten: Depressionen, Einnahme von Schmerzmitteln, Suizidversuchen, Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum, Fettleibigkeit, Ängstlichkeit, körperliche Aggressivität und eingeschränkte Lebenszufriedenheit.

Van der Kolk erläutert, dass gerade bei Kindern häufig andere Diagnosen gestellt werden, wie ADHS, oppositionelles Verhalten, Schwierigkeiten der Emotionsregulierung usw. ohne dass einfühlsam auf entwicklungsbedingte Traumafolgestörungen hin untersucht wird.

Was dieses Buch für meine heilpädagogische Arbeit bewirkt

Viele Kinder, die ständig zwischen hektischer Aktivität und Immobilität schwanken, können die Kunst der Selbstregulation erlernen. Kinder sollten nicht nur lesen, schreiben und rechnen lernen; man sollte ihnen auch beibringen, ihrer selbst gewahr zu sein, sich selbst zu regulieren und zu kommunizieren. Ebenso wie wir sie in Geschichte und Geografie unterrichten, müssen wir ihnen die Funktionsweise ihres Gehirns und Körpers erklären. … Emotionale Intelligenz beginnt mit der Entwicklung der Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu identifizieren und sich auf die Emotionen der Menschen in der Umgebung einzustimmen.
Bessel van der Kolk, S. 550

Es ist ein weites Spektrum an Kindern, die ich in meiner heilpädagogischen Arbeit begleite. Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten unterschiedlicher Art, Kinder mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten, Kinder, die frühgeboren und entwicklungsverzögert sind. Bei kaum einem wurde die Fördermaßnahme genehmigt, weil traumatische Erlebnisse bekannt sind. Dennoch liegen sie vermutlich in vielen, vielleicht den meisten Fällen vor.

Hier werde ich in Zukunft genauer hinschauen, mit Eltern (soweit möglich) bewusster darüber sprechen und pädagogische Fachkräfte auf das Thema „Trauma bei Kindern“ aufmerksam machen.

Sowohl für Kinder als auch ihre erwachsenen Bezugspersonen werde ich Methoden der Stressregulation verstärkt in meine Angebote einbauen. Eine Weiterbildung zu diesem Thema habe ich gerade begonnen.


Bessel van der Kolk: Das Trauma in dir: Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir ihn heilen können
Aus dem Englischen übersetzt von Theo Kierdorf
Ullstein, Feb. 2023
656 Seiten, Paperback, 18,99 Euro

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