Strafe gehört für viele Menschen noch immer zum Erziehungsalltag – auch in Kitas. Sie gilt als notwendig, um „Grenzen zu setzen“, „Konsequenzen zu zeigen“ oder Verhalten zu „korrigieren“. Doch aktuelle Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie, der Neurobiologie und der beziehungsorientierten Pädagogik zeigen ein anderes Bild: Strafen verändern Verhalten meist nur kurzfristig – und hinterlassen dabei Spuren, die wir nicht unterschätzen dürfen.
In diesem Beitrag werfe ich einen Blick auf die Frage, warum Strafe nicht nachhaltig wirken, weshalb sie dennoch so weit verbreitet sind, und was Kinder stattdessen brauchen, um sich gesund zu entwickeln – emotional, sozial und beziehungsfähig.
Warum Strafe nicht funktioniert
- Das kindliche Nervensystem gerät in Stress
Wenn ein Kind bestraft wird – sei es durch Liebesentzug, Isolation (z. B. Auszeit), Anschreien oder Konsequenzen, die nichts mit dem Verhalten zu tun haben – reagiert sein Nervensystem oft mit Stress. Das Gehirn schaltet in den Überlebensmodus (Kampf, Flucht oder Erstarren). In diesem Zustand kann ein Kind weder lernen noch reflektieren und schon gar nicht Empathie entwickeln. Das denkende Hirn (der präfrontale Cortex) ist außer Betrieb. Dem emotionalen Gehirn geht es nur um Sicherheit. - Keine nachhaltige Verhaltensänderung
Strafen können kurzfristig zur Unterdrückung eines unerwünschten Verhaltens führen – aus Angst vor der Konsequenz. Doch langfristig wirken sie nicht. Weder Kind noch Erwachsene erkennen das zugrunde liegende Bedürfnis oder befriedigen es. Das Verhalten kann wiederkehren oder sich in andere Formen (z. B. Lügen, Vermeidung) verlagern. - Beziehung wird geschwächt
Kinder lernen durch Beziehung. Wenn sie sich sicher, gesehen und angenommen fühlen, sind sie bereit, von Erwachsenen zu lernen. Strafen hingegen beschädigen diese Beziehung, schaffen Misstrauen und können zu einem Gefühl von Scham, Unverbundenheit oder sogar Ablehnung führen. - Scham statt Reue
Strafen erzeugen oft Scham – ein Gefühl, das tief sitzt und das Selbstbild des Kindes angreift („Ich bin schlecht“ statt „Ich habe etwas getan, das nicht okay war“). Reue hingegen entsteht aus Empathie – und die wächst nicht unter Druck, sondern in einem sicheren, emotional unterstützenden Umfeld.
Warum Strafen dennoch so verbreitet sind
- Gesellschaftliche Prägung
Viele Erwachsene haben selbst Strafen erlebt und halten sie für „normal“. Der Glaube, Kinder müssten „gehorsam“ sein oder dass Erziehung ohne Strafen „inkonsequent“ ist, ist tief in unserer Kultur verankert. - Mangel an Alternativen und Stress im Alltag
In herausfordernden Alltagssituationen fehlen oft die Zeit, die Energie oder die Kompetenzen, um bedürfnisorientiert zu reagieren. Strafen erscheinen auf den ersten Blick einfach, klar und wirksam – auch wenn sie es langfristig nicht sind. - Machtungleichgewicht und Kontrollbedürfnis
Erwachsene sind in der Machtposition – und in Stresssituationen greifen sie (unbewusst) zu Kontrolle, um wieder Ordnung herzustellen. Dies kann sich in Strafen äußern, obwohl es langfristig nicht zur echten Kooperation führt. „Manipulation und Methoden machen das Kind zum Objekt. Deshalb funktionieren sie schlecht, weil Kinder das spüren.“ (Mathias Voelchert, aus: Das Prinzip „Gleichwürdigkeit“) - Verwechslung mit natürlichen Konsequenzen
Viele verstehen unter „Konsequenzen“ noch immer Strafen. Dabei sind natürliche Konsequenzen – also das Erleben der realen Folgen eines Verhaltens – etwas ganz anderes. Eine natürliche Konsequenz kann eine Lernerfahrung sein, eine Strafe ist eher eine Machtdemonstration.
Beispiel:
– Durch den Bach laufen gibt nasse Schuhe und Füße. „Trockne dich ab und stopfe die Schuhe mit Zeitung aus.“ (natürliche Konsequenz)
– „Du hast nicht gehört und deine Schuhe sind jetzt nass. Daher darfst du nicht mit zum Kochen.“ (Strafe, die nichts mit dem vorherigen Geschehen zu tun hat)
Was Kinder wirklich brauchen
Kinder brauchen keine Strafen, um zu lernen – sie brauchen sichere Beziehungen, Co-Regulation, feinfühlige Erwachsene und Räume, in denen sie erfahren dürfen, wie ihr Verhalten wirkt. Unser Ziel als Pädagog:innen sollte nicht Gehorsam sein, sondern Beziehung, Entwicklung und Verantwortungsübernahme. Wenn wir Kinder als Menschen mit echten Bedürfnissen und Emotionen sehen, können wir Wege finden, die nicht auf Macht und Kontrolle, sondern auf Verbindung und Verständnis beruhen.
Emotionale Begleitung statt Konsequenzdruck
Wenn ein Kind z. B. haut oder schreit, begleite es emotional (Co-Regulation):
„Ich sehe, da ist gerade richtig viel Wut. Ich bin bei dir. Wir finden eine Lösung.“
➡️ Das Nervensystem wird beruhigt – Beziehung statt Bedrohung.
Grenzen liebevoll und klar setzen
Grenzen sind wichtig – aber nicht mit Strafe, sondern mit Haltung:
„Ich lasse nicht zu, dass jemand verletzt wird. Du darfst wütend sein. Wir schlagen nicht.“
Achte auf wertschätzendes Verhalten und klare, positive Formulierungen.
➡️ Klarheit ohne Drohung – Kinder brauchen Orientierung, keine Machtspiele.
Nach dem Konflikt: Wieder in Beziehung gehen
Kinder geraten ständig in Konflikte, halten Grenzen und Regeln nicht ein. Das ist normal. Dann kommt es darauf an, beziehungsstärkend zu reagieren. Statt Strafe nach einem Regelbruch heißt es also: Verbindung stärken.
„Was ist passiert? Was hat dich so geärgert? Was können wir das nächste Mal anders machen?“
➡️ Das fördert Verantwortungsübernahme statt Scham.
Selbstwirksamkeit ermöglichen
Beziehe die Kinder in Lösungen ein. Meist haben sie andere Ideen als wir uns vorstellen, sind kreativ und durchaus kooperativ.
„Du wolltest den Bagger – was könnten wir tun, wenn jemand anders ihn auch will?“
➡️ Das fördert Kooperationsfähigkeit und Problemlösen.
Vorher statt nachher: Prävention durch Struktur
Kündige Übergänge rechtzeitig an, mit sanfter Begleitung (z. B. Lieder, Timer, Bewegungssignal). Reduziere Reize und schaffe sichere Rituale. Biete klare, visuell unterstützte Abläufe (z. B. Bildkarten, Zeitgeber, Symbole). Mit diesen strukturgebenden Elementen schaffst du Orientierung und Sicherheit für das Nervensystem des Kindes.
Achte bei herausfordernden Kindern noch mehr darauf und entwickle dich zum vorausschauenden Detektiv für ihre besonderen Schwierigkeiten. Beobachte genau, wann und wobei das Verhalten auftritt (Tageszeit, Situation, Reizlage, soziale Auslöser). Biete noch mehr Blickkontakt, gib ihnen die Hand oder anderen Körperkontakt, helfe ihnen Verantwortung zu übernehmen.
➡️ So entsteht Sicherheit statt Eskalation.
Natürliche statt künstliche Konsequenzen
Verzichte auf „logische Strafen“ („Dann gehst du heute nicht mit raus!“). Nutze stattdessen echte, lebensnahe Folgen:
„Wenn du das Wasser auskippst, müssen wir gemeinsam aufwischen.“
➡️ Kind erlebt Folge statt Strafe – mit Begleitung, nicht Abwertung.
Beziehung statt Isolation
Auszeiten („Time-out“) oder „stille Stühle“ sind out. Gewissermaßen das Gegenteil, „Time-in“, ist wesentlich nachhaltiger für eine gute Beziehung:
Das Kind bleibt in Nähe, kann sich mithilfe einer Bezugsperson regulieren (Co-Regulation).
➡️ Kinder lernen durch Bindung, nicht durch Ausschluss.
Zusatz: Impulse zur Fachreflexion
- Was möchte ich dem Kind eigentlich vermitteln?
- Handle ich aus Verbindung oder aus Kontrollbedürfnis?
- Was braucht das Kind in diesem Moment – und was brauche ich?
Denke daran:
Nur wenn wir selbst gut stehen, können wir andere gut halten.